Erasmus – Kleine Klassen, großer Lernvorsprung. Schulleitung und Lehrer der Kastell-Realschule Welzheim besuchen Schule im PISA-Spitzenreiter-Land Finnland

Auch Lehrer sollten dazulernen – nach diesem Motto machten sich Schulleitung und  Lehrer der Kastell-Realschule Welzheim im Rahmen des Erasmus-Programms auf den Weg ins 2785 Kilometer entfernte Oulu, besuchten dort knapp eine Woche lang eine finnische Schule  – und sind mit guten Ideen zurückgekommen.

„Hi Marja“, begrüßen Fanni und Lily ihre Klassenlehrerin, „hi“, grüßt ihre Lehrerin zurück. In der Halle vor dem Lehrerzimmer spielt ein Schüler Klavier, direkt daneben findet ein aufgeregter Rundlauf um die Tischtennisplatte statt, ein Elternpaar kommt die Treppe hinauf.  Alle auf Socken. Denn wie fast alle Schulen Finnlands ist auch die „Oulu International School“ eine „Schule ohne Schuhe“ und deshalb lässt jeder – Schüler, Lehrer, Besucher, Handwerker – gleich hinter der Eingangstür seine Stiefel und Sneaker stehen. Die Kleinen und die Lehrer schlüpfen dann brav in Hausschuhe, aber spätestens ab Klasse 5 ist man dafür zu cool und rutscht auf Strümpfen durch den Schultag, die übrigens auch an dessen Ende noch recht sauber aussehen.

418 Schülerinnen und Schüler aus 32 Ländern besuchen die Oulu International School. Sie werden von 32 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Auf Englisch. Wie alle finnischen Schulen ist sie eine Gemeinschaftsschule.

Die Schule bekommt viel Besuch aus allen Ländern der Welt, aber ganz besonders viel aus Deutschland. Denn noch immer sitzt er hierzulande tief, der PISA-Schock – obwohl es jetzt schon 19 Jahre her ist, seit die Ergebnisse der ersten internationalen Schulleistungsstudie hierzulande einschlugen wie eine böse Bombe. Deutschlands Schülerleistungen rangierten damals im unteren Mittelfeld (Platz 21), Finnlands Schüler hingegen auf Platz Eins. Wesentliches hat sich seit dem Jahr 2000 nicht an diesem Ranking geändert. Deutschland ist Mittelmaß geblieben, Finnlands Schüler beweisen nach wie vor sehr gute Leistungen.

Woran das liegen könnte? Den Bildungsreisenden aus Welzheim fällt sofort auf, dass die Klassen in Oulu viel kleiner sind als an der Kastell-Realschule. Erstaunt zählt Schulleiter Peter Beck immer wieder die Schüler und kommt auf „kleine Klassen mit in der Regel zwischen 12 und 17 Schülern.“ Er folgert: „Jeder Schüler hat im Unterricht mehr Redeanteil.“

Was die digitalen Medien und ihren Gebrauch im Unterricht betrifft: diesbezüglich sind die Schüler in Oulu weiter als in Welzheim. So hat die finnische Schule WLAN und zwei Tablet-Wagen, auf fast allen Fluren gibt es PC-Arbeitsinseln für die Schüler. Ganz selbstverständlich loggen sich die Lehrer zu Beginn des Unterrichts ein, Kreidetafeln sucht man vergeblich. Über einen „Sharepoint“ können die finnischen Eltern jederzeit Einblick in die Leistungen ihrer Kinder nehmen.

Was auch auffällt, ist das hohe Niveau und die gute Arbeitsdisziplin der finnischen Schüler. In Klasse 8 muss jeder der Schüler eine selbstständig vorbereitete Rede auf Englisch vor der Klasse halten, was beeindruckend lebendig und flüssig gelingt. Die Mitschüler lauschen gespannt und geben gleich online ihr Feedback, welches dann ihre Lehrerin in die Bewertungsbögen für die Schüler mit hineinnimmt.

Pause. Neugierig betritt die Delegation aus Welzheim das finnische Lehrerzimmer. Überladene Arbeitstische sucht man hier vergeblich. Wie in Deutschland tümmeln sich viele Kollegen um die Kaffeemaschine, wovon aus sie sich mit gefüllten Tassen zu einem der vielen Sofas begeben. Geschichtslehrer Anti belegt eins der Länge nach und gönnt sich einen kleinen Power-Nap.

Der Lehrer-Beruf ist einer der begehrtesten in Finnland, erzählt Lehrerin Marja Peedo. Bis zu sechs Bewerber kommen auf einen Studienplatz, alle müssen durch eine schriftliche Prüfung, bei der rund 80 Prozent ausgesiebt werden. Die verbliebenen 20 Prozent gehen in eine mündliche Prüfung, die in der Regel nur jeder zweite besteht. Dieser darf dann „Class Teacher“ studieren. Class Teacher unterrichten die Klassen 1-6 und genießen das höchste Ansehen unter den Lehrern in Finnland. Diejenigen, die dann die älteren Kinder ab Klasse 7 unterrichten, sind „bloß“ Fachlehrer und werden auch etwas geringer bezahlt.

 Obwohl nur wenige den Studienplatz erhalten – nach dem Studium müssen sie trotzdem hart um eine Stelle kämpfen. Als Schulleiterin Raija Perttunen im vergangenen Jahr eine Stelle ausschrieb, erhielt sie 120 Bewerbungen. Um die Auswahl ein wenig einzuschränken und sich ein etwas besseres Bild zu machen, forderte sie von den Bewerbern ein Video, in welchem sie sich selbst vorstellen sollten.

„Die Beste von allen nahm dann leider eine andere Stelle an“, sagt Perttunen und lächelt. Sie hatte ja genug Nachrücker.

Ähnlich wie in Deutschland sind die Lehrer in Finnland praktisch unkündbar, wenn sie mal fest angestellt sind. Bis dahin kann es aber bis zu sechs Jahre dauern. Dennoch lassen sich viele davon nicht abschrecken. „Lehrer sind in der finnischen Gesellschaft sehr geschätzt“, sagt Marja Peedo, die – wie alle Englisch-Lehrer an der Oulu International School Muttersprachlerin und – in ihrem Fall – aus Australien zugewandert ist.

Warum ist das finnische Schulsystem so erfolgreich? Marjas Antwort: „Weil wir unsere Kinder gemeinsam von Klasse 1 bis Klasse 9 unterrichten. In kleinen Klassen.“ Was könnte besser sein? „Wenn wir noch mehr Geld in die Schulen gäben, wären wir noch besser.“

Viel zu schnell vergeht der Aufenthalt in Oulu. Was nehmen die Lehrer der Kastell-Realschule mit? Schulleiter Peter Beck, Konrektorin Beate Flemming und ihre Kollegin Sylvia Hüneke sind sich einig: In einer der nächsten Konferenzen wollen sie mit dem Kollegium über die Einführung des Lehrerraum-Prinzips diskutieren – dass also die Klassen zu den Lehrern in den Unterricht wandern und nicht wie bisher die Lehrer in die Klassen. Das heißt, die Lehrer könnten ihren Raum nach ihren fachlichen Ansprüchen – z.B. für die Geographie- und Deutschlehrer mit entsprechenden Karten, Atlanten und Fachbüchern ausstatten und hätten dort praktischerweise auch gleich ihren Arbeitsplatz. Momentan teilen sich 34 Lehrer in Welzheim zwei Zimmer und vier PCs.

Gibt es auch Gemeinsamkeiten? Allerdings! Ob in Oulu oder in Welzheim: immer ist die Spülmaschine im Lehrerzimmer voll und wartet darauf, dass jemand sie ausräumt.

Das finnische Bildungssystem

  • Einschulung im Alter von 7 Jahren
  • Alle Kinder besuchen gemeinsam von der 1. bis zur 9. Klasse integrative Gesamtschulen.
  • Darauf baut die Sekundarstufe II auf – in ihr ist jederzeit ein Wechsel zwischen dem allgemeinbildenden und dem berufsbezogenen, praxisorientierten Zweig möglich.
  • Abschluss: Abitur oder mit einer Berufsausbildung.
  • Jeder finnische Schüler lernt mindestens zwei Fremdsprachen, in der Regel Schwedisch und Englisch.